Tagebuch

Nel Vicolo Soglio 9. August 2019

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Hör- und Sehtagebuch zur Tages-Komposition von Peter Cadisch
Mit Beiträgen von Zuhörer*innen und Sibylle Omlin.

Soglio Dorfzentrum

«Aus seiner grünen Wildnis löst sich das Dorf, auch noch halb Natur, wie es dem Ankommenden scheint, ein zusammengeschobener Haufen grauer Würfel, ein ungeregeltes Gewirr. In schachtähnlich enger, gekrümmter Gasse durchschreitet man es und sieht sich mit einemmal vor die klare Front der Palazzi gestellt. Sie sind eher schmucklos als prächtig, und ihre Schönheit liegt in dieser Situation: aus einem amorphen Gemenge, einem undisziplinierten Wirrsal löst sich ein klarer Gedanke. Dies ist sehr lateinisch. Es ist der Triumph der Gestalt über das Gestaltlose. Und es ist damit eine ganz besonders signorile Repräsentation. Nun ist die ganze Ortschaft mit einem Mal nur zum Rahmen für diese Reihe stolzer Häuser geworden.» (Erwin Poeschel)

6h55
Ein hellblauer Himmel leuchtet über der engen Gasse. Kein Laut ist zu hören, nur die eigenen Schritte. Ich gehe die Via Foppa entlang (Via Foppa 8-11). Eine Frau mit kleinem Hund kreuzt meinen Weg. «Guten Morgen! Schon unterwegs?» «Guten Morgen, ja ich muss in den Stall» antwortet sie. Der Hund schnuppert ein bisschen am Wegrand. Pisst. Dann gehen sie weiter. Die ersten Klänge ertönen. Ich stehe an der Via Foppa 11, beim Brunnen. Die Musikerin kann ich nicht sehen. Zwischen die Töne der Violine mischt sich das Geräusch des Brunnens. Der Brunnen bestimmt eigentlich die Geräuschkulisse. Die Töne klingen nur ab und zu, nach längeren und kürzeren Pausen.

Ich gehe ein Stück den Weg entlang. Im Haus Nr. 8 brennt ein Licht im zweiten Stock. Am Wegrand liegt ein Stall mit zwei halboffenen Türen. Er ist leer. Das Vieh ist auf der Alp. Eine Tabelle hängt an der Wand. Weidejournal 2019.

Ich trete auf den Weg zurück. In einem Holz-Häuschen oberhalb des Wegrands steht eine Frau auf dem Balkon. Sie reckt ihre Arme über den Kopf. Ich sehe zu ihr hinüber. Sie sieht zu mir hin. Wir winken uns zu.

Im Dorf ist es noch still. Einzelne Vögel zwitschern. Das Wasser ist gut hörbar, von den Brunnen, aus den Dohlen unterhalb der Wege. Ich gehe hinauf in die Gassa d’Uspader. Da sitzt Martin vor einem Haus an einem Tisch und lauscht. Ich setze mich neben ihn auf einen Schemel. Das Haus gehöre Luciano, sagt er.
Die Töne sind verstummt. Wir hören Schritte. Eine Gruppe von Gästen zieht ans uns vorbei. Ich gehe an die Via Foppa zurück. Wegweiser Parlongh/Caccior.
Ein Auto fährt vorbei. GR 8176. Es ist Marco Giovanoli, der Bauer. «Bun di», sagen wir. Und grüssen einander mit Handzeichen. Die Menschen fahren mit Ladegeräten zum Heuen in die verschiedenen Felder hinaus.

7h15
Blau spannt sich übers Dorf. Fast keine Wolken stehen am Himmel. Ein schöner Tag kündigt sich an. Eine Kirchenglocke schlägt die Viertelstunde.

Auf der Piazza vor der Casa Alta. In der Via Lo steht eine weitere Musikerin. Ein BMW fährt auf uns zu. Italienisches Kennzeichen I CK 345 EV. Er kreuzt die Musikerin langsam.
Wieder ist ein Brunnen zu hören. Auf einer Treppe steht eine Milchkanne. An der Casa Alta entdecke ich im Verputz an einer Ecke Schriftzeichen. PZE, RDR, GUR. Fast nicht zu entziffern. Ich lege meinen Kopf zurück. Im 2. Stock der Casa Alta sehe ich zwei nebeneinanderliegende Fenster. Zwei Gesichter schauen hinab.
Ein Auto fährt vorbei. Ein Töff. Ein Heuladewagen. Ein Handy klingelt.
An der Via Lo 11 lese ich 43, 1962.
Holzhäuschen. Dair Pass da le Pragignole.

7h20
Ins Duo der Streicher mischen sich die Stimmen der Vögel und Geräusche von Wasser.
Ich gehe die Via Lo entlang bis zum Brunner vor dem Haus von Toni Weishaupt. Auf einer Stallwand auf dem Weg dahin sind die Plakate von Kulturveranstaltungen der Region angebracht. Es läuft einiges. Das Raetia Ensemble spielt am Sonntag, der in Genf lebende Fotograf Claudio Moser stellt in der Villa Garbald aus. Auf einem Plakat zwei einfache Bilder.
Blick an die Berghänge oberhalb von Bondo im Gegenlicht. Es ist je eine grosse Fläche heller Staub zu sehen, auf einem Bild grösser. Raymond Meier, der Fotograf, der in New York und zeitweise in Soglio lebt, hat am 23. August 2017 den Bergsturz von Cengalo fotografiert, die Staubwolke. Er hat eine zweiteilige Edition herausgegeben.

An jenem Tag im Jahr 2017 stürzen oberhalb von Bondo drei Millionen Kubikmeter Fels auf den Gletscher des Pizzo Cengalo.

Die gewaltige Masse an Gestein pulverisiert in Sekundenschnelle riesige Mengen an Eis und lässt es teilweise schmelzen. Das frei gewordene Wasser bringt die abgestürzten Gesteinsmassen in Bewegung und formt einen Schuttstrom, der sich durch die Val Bondasca bis in den Talboden bei Bondo ergiesst. Das Foto von Raymund Meier, in Soglio aufgenommen, zeigt Konturen einer hellen Staubwolke. Er hatte den Moment des Unglücks fünf Minuten nach dem Murgang fotografiert.

Später finde ich ein Video vom Unglück auf youtube. Eine kilometerbreite Front bricht aus
und wird in Sekundenschnelle Pulver, Rauch, Wolke.
PFFFFFFFFFFFFFFFFFFFFFT

7h30
Die Glocke schlägt 7h30, zwei Schläge. Das Dorf wird langsam wach.
Ich gehe auf einen Violinklang zu. Ich treffe den Wirt vom Palazzo Salis. «Guten Morgen.»
«Guten Morgen»

An der Ecke von Via Lo 7 und Gassa d’Isker sehe ich ein kleines Mädchen stehen. Gebannt sieht es der Violinistin beim Spielen zu. Neben dem Mädchen steht ein junger Mann mit einem Baby im Tragtuch am Bauch. «Was macht eine junge Familie um 7h30 schon auf den Gassen von Soglio?» frage ich. «Die Kinder» sagt der Mann lächelnd, «die sind so früh auf!» Die Musik geht zu Ende. «Was hast Du gehört», frage ich das Mädchen. «Eine Geige» sagt es mit strahlenden Augen. Das Mädchen und der Mann erzählen mir, dass heute ihr letzter Ferientag in Soglio sei. Sie waren zwei Familien mit vier kleinen Kindern. Wandern, spielen, zusammen picnicen. Als ich frage, wo sie wohnen, sagen sie, sie wohnten in der Gasse neben der Baustelle. «In der Nr. 8», ruft das Mädchen. «Bist Du sicher»? fragt der Vater. «Ja,
aber ich gehe noch mal schauen.» Und flitzt um die Ecke. Das Baby im Tragtuch ist nun wach
und lächelt die Welt an. «Ja, für die Kinder ist dieses Soglio ein Traum. Sie kennen sich hier
sehr schnell aus, können sich sehr gut orientieren. Auf alle besser als wir Erwachsene»,
schmunzelt der junge Mann. Und schwupps steht das kleine Mädchen wieder vor uns. Es kam von der anderen Seite der Gasse her. «Es stimmt, es ist die Nr. 8», erzählt es stolz. «Heute komme mein Opa zu Besuch», erzählt es weiter. Das Baby regt sich nun im Tragtuch.
«Hast Du ausser der Geige sonst noch etwas gehört?» frage ich das Mädchen. Es schüttelt den Kopf. «Das Wasser», sagt der Vater, «man hat das Wasser der Brunnen auch gut gehört.»

7h45
TCTCTCTCTCTCTCT
Ein kleiner Lastwagen voller Sand muss an der Casa Alta vorbei und rückwärts in die enge
Gasse einbiegen. Der Fahrer ruft «Vai via!»
Wir schauen zu, wie der Fahrer durch die enge Abbiegung zirkelt. «Andate via», ruft er uns
zu. «E pericoloso!» Wir stellen uns an eine Hauswand.

«Wie heisst Du?» frage ich das Mädchen. «Selina», antwortet es. «Haben Sie ein
Taschentuch?» fragt mich der Vater. Ich krame in der Handtasche und finde ein
Papiertaschentuch. Es hat schon ein bisschen in der Handtasche herum gelegen. Ich gebe
es ihm. «Es ist nicht ganz unberührt», sage ich. «Macht nichts», sagt er und schneuzt sich die
Nase.

Der Vater nimmt das Mädchen an der Hand. «Wir gehen nun mal schauen, ob die andern
schon wach sind und ob es Frühstück gibt», sagt er. Wir verabschieden uns, wünschen uns
noch einen guten Tag, und die kleine Familie zieht davon.

Ich gehe zum kleinen Lastwagen, der inzwischen in der Gasse parkiert hat. Er hat Sand
geladen. «Bun di» sagen wir. Der Mann ist offenbar Maurer. Später wird er Beton mischen
vor der Baustelle.

Die Gasse hinunter in die Stüva, um einen Kaffee zu trinken.

Pietro geht vorbei. Es ist schwierig, Worte für diese Musik zu finden. Einfacher war es zu
einem Erlebnis auf der Piazza vor der Ca Grande. «Ich stand da, und von zwei Seiten kamen
Vibrationen von Klängen. Sie haben sich in meinen Ohren, in meinem Kopf getroffen. Das
war einmalig. Berührend. Ein grosses Glück.» Eine Interferenz.

8h10
Gehe in den Laden, Alimentari Scartazzini. Eine Frau und ein junger Mann stehen vor mir an
der Kasse. Ich weiss nicht, was ich kaufen möchte. Ich entscheide mich für Nähfaden. Die
Frau geht zu einer Kommode, öffnet eine Lade und zeigt auf die Fadenspulen. Ich nehme
hellblau. Die Wege im Dorf mit dem Faden kennzeichnen. Nach zwei kurzen Gassen ist die
Spule leer. Ich behalte die leere Spule eine Weile in der Hand und stecke sie dann in die
Hosentasche.
SSSSSSSSSS SSSSSSSSS.TCTCTCTCTCTC


Auf der Piazza vor der Ca di Mezzo treffe ich auf den Intendanten des Bündner
Kammerorchesters. Er ist mit dem Bus des Orchesters gekommen. Durch die offene Türe
sehe ich Mikrophone, Lautsprecher, Lampen. Die Tournee des Orchesters gibt ihm den
Einstieg und wichtige Einblicke in seine neue Arbeitsregion. «Das ist einfach toll, das hier»,
sagt er und strahlt übers Gesicht. Ich weiss noch nicht, wie ich mit ihm über die Musik
sprechen kann. Ich stelle mich in die Gasse neben einen Garten und höre hier die Musik. Sie
kommt aus dem Grün, das ich beim Vorbeigehen gesehen habe. Ein paar Zuhörer sind auch
da. Ganz still.

Matthias sitzt auf dem Bänkchen vor der Casa Alta. Er ist Architekt und wohnt im Dorf.
«Was hast Du gehört?»
«Die Klänge der Instrumente. Und dann waren die Klänge der Umgebung, der Wind, die
Bäume, die Brunnen. Am meisten haben sich mir die flüsternden Stimmen der Zuhörer, oder
ein vorbeifahrendes Auto, oder etwa klirrende Gläser von Palazzo-Gästen, oder der krähende
Hahn eingeprägt.»
«Wie hat die Musik von Peter auf Dich gewirkt? Wie liest Du sie?»
«Die Musik hat sich für mich mehr und mehr der Umgebung angenähert, und umgekehrt.»
«Was nimmst Du von ihr schon mit?»
«Ich nehme Wahrnehmungen und Blicke mit, die ich von Soglio vorher in dieser Form nicht
kannte.»

Peter kommt vorbei. Er bleibt stehen. Und hört auch. «Ja, hier ist es sehr schön.» Zwei
Musiker mit ihren Instrumenten gehen mit Martin die Via Foppa entlang.

In der grossen Ca di Antonio, die an die Ca di Mezzo anschliesst, stehen zwei Fenster offen.
Wer wohnt hier? Hört jemand zu?
Kontrabass und Geige. Ein Akkord. Geige spielt vermutlich ein zweigestrichenes A. Ich
verfüge über kein absolutes Gehör.

Maike sitzt mit ihrem Aufnahmegerät auf einer kleinen Bank.
«Die musikalischen Kompositionen haben sich für mich unheimlich gut mit den Geräuschen
des Dorfes kombiniert. Dadurch das ich die Tonspur übernehme, bin ich besonders
sensibilisiert.
Am Anfang musste ich mich ich erst einmal hinein hören. Aber im Lauf der Stunden heute
morgen hat es mir immer besser gefallen.

Ich habe Peters Musik gehört aber gleichzeitig auch die Alltagsgeräusche von Soglio,
Handwerker, Klopfen, Hunde bellen, Hahnenschreie….usw. Geräusche, die ich sonst nicht
immer wahrnehme, die im Alltäglichen oft untergehen.

Peters Musik möchte ich einfach nur hören. Peters Musik ist nichts, was man nebenbei hören
könnte. Aber das mag ich sowieso gern, und das tue ich mit Jochen gelegentlich auch. Am
Tisch sitzen und einfach nur hören, ohne dass wir dabei reden. Reiner Hörgenuss.

Tatsächlich sensibilisiert mich Peters Musik, der Tag in Soglio, etwas mehr und genauer hin
zu hören. Ich denke, das ist etwas, was ich mitnehmen werde.

Besonders gefällt mir, dass wir im Dorf herumwandern. Die Klänge erfahren durch die
verschiedenen Standpunkte immer wieder eine neue Idee. Mal laut und klar, mal leise, mal
fast verweht.»

Mateja steht vor ihren Stativen und nimmt zwei der Ständer mit den Glasscheiben in die
Hand. Sie macht sich auf zur Casa Guberto.

8h45
Der Kirchturm schlägt drei Mal.
Wir gehen durch die Via Foppa zur Casa Guberto von Ada. Mateja steht vor der Haustür mit
den zwei Ständern, die Gläser mit dichroitischen Filtern tragen. Ein helles Grün, ein fast
ultramarines Blau. Wie auf einer Palette eines Malers. Man sieht darin die Hausfassade von
Ca Guberto spiegeln. Und man sieht auch sein eigenes Gesicht.

9h00
Die Töne klingen. Eine Gruppe von Japanern geht vorsichtig als Schlange von Menschen an
den Gläsern und an der Musik vorbei. Eine Frau spricht zu allen anderen. Sie ist offenbar die
Leiterin. Ich spreche sie an. Die Menschen kommen aus Japan und wollen das Dorf
besichtigen. Warum Soglio? Das kriege ich nicht heraus. Segantini? Sie gehen hinaus aus
dem Dorf zum kleinen Belvedere mit den zwei Sitzbänken. Ausser «Hello» und «Have a nice
day» wird nicht viel gesprochen. Vermutlich sind sie auf den Spuren von irgendetwas.

9h10
Nr. 169, 19, Via Foppa
Geräusche kommen von dem Dach über dem Balkon, wo ich vor zwei Stunden die Frau
stehen und sich die Arme recken gesehen habe. Die Frau ist nicht mehr zu sehen. Zwei
Männer stehen auf dem mit Steinplatten gedeckten Dach. Es gibt zwei Löcher. In diese
beiden Löcher werden kleine Velux-Fenster gesetzt und mit Steinen umrahmt. Sie klopfen
mit Hämmern. Die beiden Männer tragen orangefarbene Hosen. Ihre Oberkörper sind nackt.
Schöne dunkelbraune Rücken. Sehr kurzer Haarschnitt.

TCTCTCTCTCTCTCTCTCTC
Der Heuladewagen fährt wieder vorbei. Mauro und sein Sohn sitzen drin.
«Come va?» «Bene, bene.»
Ich gehe die Via Foppa entlang Richtung Osten aus dem Dorf hinaus. Ein Bach plätschert in
seinem mit Steinen gefassten Bett. Ein Hahn und Hühner im Stadel. Foppa 24. Schöner
Bauerngarten. Ein grosser Nussbaum.
Ein Stadel, das viele Schilder trägt.

«Vietato caspestrare i prati
It is forbidden to walkd on the fields
Wiesen betreten verboten

Interdit de piétiner l’herbe dans les près.
Grazie, Danke, Merci, Thanks»

Cerditti Tannini Milano: ein gelbes Schild neben dem Heugebläse

Die Feldstrasse, die im Osten aus dem Dorf führt ist unglaublich schön. Weniger Häuser,
dann Felder, Wege ohne Pflästerung.
Eine Badewanne voller Wasser steht am Wegrand. Eine Bürste zum Händewasche.
Wegweiser, Via Bregaglia.
Zwei Eidechsen huschen über die Hauswand.
Motorsägen klingen vom Dorf her. Zwei höre ich.
Die Musik ist nicht zu hören. Ich blicke zur Kirche hinüber.
«Über der Landschaft nun liegt, auf halber Bergeshöhe, dieses kleine, mit
Gneisplatten eingedeckte Nest, eine Kirche am Abhang, ganz enge Gassen.» (R.M.Rilke)
SSSSSSSSSS


Der Stall von Marco.
Zwei weisse Tauben fliegen auf, drehen übers das Grün der Wiese zu mir herüber und
setzen sich dann wieder auf die Holzpfeiler an der Stallwand. Noch mehr Tauben fliegen
herum.
Ich glaube Glöcklein von Ziegen zu hören.
Der Hahn schwingt sich auf den oberen Rand des Gartenzauns und kräht. Eine Elster fliegt
von der Wiese auf. Ich sehe zurück zum Dorf.
Meisen, Amseln, Bachstelzen.
Grillen in den Wiesen.
SSSSRRRRRSSSSSSSRRRRRRSSSSSSRRRRR

Schild: «Vietato capetrare i pratie. No raccogliere frutti e funghi.
Mutta fino a CHF 50.-. La sovrastanza communale.»

Loco, Gassa D’Uspadera
Diese Einzimmerwohnung können Sie mieten 081 822 18 21, CHF 65.-/Tag
Gassa d’Isker 6+7

Ich treffe auf die Postbotin in ihrem gelben Auto. Sie hält vor dem Eingang in die Gassa. Sie
macht pro Tag drei bis vier Rundgänge durchs Val Bregaglia, erzält sie. Von Vicosoprano
aus, da ist der Hauptsitz der Post. Wir werden uns noch ein paar Mal sehen.

Richtung Brunnen zurück. Diese Piazza mit den Palästen der Salis. Ich sehe Männer in
Rüstung und Waffen. Pferde. Ich rieche Mist und Schweiss. Ich setzte mich auf die steinernen
Bänke an der Ca di Mezza. Schaue auf die steinernen Halterungen, wo früher die Tiere
angebunden wurden.

«Es waltet nicht nur Gnade, sondern wiederholt auch Ungnade über dem Leben
der Talleute; die Bauern in ihren kleinen würfelförmigen Häusern und die Signori in ihren
Palästen haben an beidem teilgehabt. Das Schicksal hat alle mehr als einmal hart angefasst.»
(J.R. von Salis)


Komme an der Baustelle Gassa de la Cruscino 9, Gassa d’i Orti, vorbei. Ein Zimmermann er
sägt Holzbalken für das Dach klein. Der Betonmischer läuft. Er wird vom Fahrer des kleinen

Lastwagens mit Sand gefüllt. Ich möchte den Mann zur Musik befragen. «Wie mischen Sie?»
höre ich mich auf Italienisch sagen. «50/50», sagt er. Auch ok.

Die Musik besteht aus etwa gleichviel Tönen und Pausen.

Keine Musik zu hören. Ein Kran schwebt über unseren Köpfen. Über dem Dachrand des in
Renovation befindlichen alten Holzhauses schwenkt der Hebearm und transportiert eine
Ladung voll Beton. Der Mann ist nun auf dem Aussen-Gerüst im 1. Stock und nimmt den
Beton in Empfang. «Che fai?» «Construiamo un muro al interno.» Der Mann lädt Beton in die
Schubkarre und verschwindet durch ein offenes grosses Fenster im Innern des Hauses.

Vorbei an dem Laden Soglio Produkte. Die Postbotin kommt mit einem Paket. Wir grüssen
uns.

9h20
Vor der Casa Guberti, wo Martin, Stefan und Mateja wohnen. Ein Akkord kommt aus dem
Fenster im 1. Stock. Ein Paar in Wanderkleidung geht den Weg entlang, das Dorf hinaus. Ich
gehe ein Stück mit ihnen. Sie tragen kleine Rucksäcke. «Wir sind gerne mit so wenig wie
möglich unterwegs.» Es ist erstaunlich, was die Menschen auch in den Ferien alles
mitschleppen. Die beiden Wanderer haben Wasser, Essen, etwas Kleidung, Regenschutz,
Fotoapparat dabei. Und ein Buch. «Mehr als das Lebensnotwendige», lache ich. «Nein», sagt
die Frau. «Bücher sind lebensnotwenig. Ich habe immer Lektüre auf der Wanderung dabei.»

Wir spazieren den Weg zum Bellevedere Richtung Riciöl hinüber und plaudern. Sie kommen
aus Basel und sind schon die ganze Woche lang in der Gegend gewandert. Sie nennen die
Orts- und Flurnamen… Avers, Juf. Als am Mittwoch ein grosses Gewitter kam, sind sie mit
dem Bus weiter nach Soglio. Nun wollen sie die letzten zwei Tage in Soglio verbringen. Sie
wohnen im Palazzo Salis.

Vor den Bänken in Riciöl halten wir. Schauen ins Dorf herüber. Der Mann zeigt mir eine
verschlossene Kiste und macht sie auf. Sie ist voller Bücher. Die Kiste ist vom
Tourismusverein eingerichtet worden. Konsalik, Autoren, die ich nicht kenne. Ich nehme ein
Taschenbuch, heraus. Butterfield 8 von John O’Hara Butterfield. Ein Roman, erschienen bei
Knaur. Das Paar aus Basel hat schöne Berufe. Er ist Buchbinder (war früher Informatiker); sie
ist Freiwillige und arbeitet mit Sans Papier. «Das ist eine wichtige Arbeit», sagt sie. Sie sind
70+. Wir tauschen Karten, Adressen…
Das Paar geht weiter Richtung Stampa. «Wir schauen, wie weit wir kommen. Wir wollen am
Abend wieder in Soglio sein.»
«Haben Sie die Musik gehört?» «Ja, wir haben die Töne gehört.» Wie weiter darüber
sprechen? Wir schweigen kurz.
«Man hört vor allem viel vom Dorf», sagen die beiden. «Die Musik ist ja nicht so üppig.»
Jetzt machen sie sich auf den Weg.

Zurück zur Casa Guberti
SSS SSS SSS SSSS
Vor der Casa Guberti treffe ich eine Frau, die dem Konzert zugehört hat. Sie komme jedes
Jahr nach Soglio, seit 30 Jahren. «Ich bin aus Nordfranken, bei Erlangen.» Ada sei eine gute
Freundin von ihr.
Ja, die Musik lasse vor allem das Dorf hören. Der Baulärm. In den letzten zwei Jahren hätte
es ab und zu Baulärm im Dorf gegeben.

Ich nehme den Weg zur Kirche und wickle meine Fadenspule ab. Und gucke in den Laden
hinein. «Aperto» steht auf dem Schild. Ich sehe niemanden.


10h25
in der Kirche. Der Vortrag von Pietro ist schon in vollen Gang. Die Bankreihen im Chorraum
sind gut besetzt. Das Auge Gottes blickt von der Decke auf uns alle herunter.
Pietro spricht gerade von Rilkes «Urgeräusch», von dem kleinen Aufzeichungs-Apparat, den
Rilke im Unterricht mit seinem Lehrer gebaut hatte und der Geräusche auf eine
Wachsmatrize aufzeichnete. Phonogramm.

10h40
Die Menschen hören aufmerksam zu. John Cage 4’33’’. Kein Ton wird gespielt. Der Raum um
das Klavier herum ist wichtig. «Wir fragen uns, wann die Musik anfängt und wann sie aufhört.
Und ob es Stille überhaupt gibt» sagt Pietro.

4’33’’ und Silence.

Pietro spricht von der Mondlandung 1969 vor 50 Jahren. Die Männer sind im Mare
Tranquilitatis gelandet. Kein Ton ist hörbar, weil auf dem Mond keine Luft ist, keine Töne
übertragen werden können.

Lärm – Was ist das? Ein störendes Geräusch. Etwas, was wir als Lärm erkennen. Es ist ein
individuelles Erlebnis. Lärm ist individuelles Lärmempfinden. Lärm wurde vor allem in der
Grossstadt 1900 erstmals beschrieben. Es gibt funktionelle Musik, die auch Lärm macht. Also
funktionelle Geräusche als Lärm produziert. Motorsägen in Dorf. Autos,
Betonmischmaschinen, Glocken, Hämmer, das Klatschen von Menschen nach der Musik.

Die Gläser von Stephan und Mateja stehen schön aufgereiht an der Grenze zwischen
Chorraum und Plenum.
«Wir benutzen Klang mehr und mehr am Handy. Elektronisch synthetische Klänge sind die
Zukunft. Auf Apps. In Instrumenten wie Synthesizer.»
Pietro kommt auf Marcus Maeder zu sprechen, der dem Klang in der Natur, in den Böden, in
den Pflanzen nachspürt. Ein Baum klingt. Im Pfynwald hat er Pinien untersucht. Bäume und
Böden haben Trockenstress. Man kann dies messen mit einem sensiblen
Feuchtigkeitsmesser. Sounding soils. Böden klingen, verstärken und aufnehmen.

11h00
Wir stehen auf dem Platz vor der Kirche. Ich sehe die Strasse abwärts Richtung Friedhof.
Normalerweise ist das ein stiller Ort. Heute hat es vor der Kirche, vor dem Laden viele
Menschen. Das Dorf ist nun definitiv erwacht und es wird gearbeitet, eingekauft, entsorgt,
Ferien gemacht, geschwatzt auf den Gassen. Alles ist auf den Beinen. Ich treffe vor dem
Friedhof eine Frau, die das Tor öffnet, um ein Grab zu besuchen. Ich höre nicht das Tor,
sondern die Musik. Auf der Bank neben dem Laden sitzt eine alte Dame. Ihre Haare sind halb
weiss, halb braun, wie wenn sie erst jetzt eine Färbung verlieren würden. Neben ihr steht
eine ca. 60 jährige Frau mit einem Müllsack in der Hand. Sie spricht Hochdeutsch zu der
Betagten. Sie sprechen über die Grösse der Müllsäcke. 35L, 60L, 15L. Aus der Kirche kommt
ein voller Cello-Ton. «Ja die grossen beginnen schnell zu stinken in der Hitze, weil sie sich
nicht schnell genug füllen.»
«Ja», sagt die alte Frau. Sie hätte die Musik schon gehört. Schon um 7 Uhr von ihrer
Wohnung an der Piazza aus. Und auch später, den ganzen Morgen. Die jüngere Frau sagt,
sie höre sie erst jetzt. «Das ist schön, solche Töne im Dorf zu hören. Einzelne Töne höre ich.
Der Klang vom Dorf ist sonst nicht so präsent, ausser die Baustellen», erzählt sie.

Sie wohne sie in Soglio, bemerkt die ältere Dame. Ja, sie sei nach der Pensionierung ihres
Mannes wieder ins Dorf zurückgekommen. Sie hätten zusammen zuvor lange in Basel

gewohnt. Die Kinder hätten jedoch nicht mehr zurück gewollt. Sie seien auswärts geblieben.
Studium, Ausbildung, Beruf, Familie. Einige Kinder sind im Wallis. Der Mann sei gestorben.
Sie sei ganz allein. «Ich bin 92», sagt sie auf einmal. Man sieht es ihr nicht an. Wir stellen uns
einander vor. «Bruna Giovanoli.» Später geht sie langsam auf ihren gekrümmten Beinen
davon. Das Alter sieht man ihr nur beim Gehen an.

Ein Mann mit kleinem Hund geht vorbei. Den Mann habe ich auch schon gesehen. Wir
grüssen uns. Er ist schon halb an mir vorbei gegangen. Ich traue nicht, mich ihn
anzusprechen. Warum nicht?

11h30
Ein dunkler Cello-Ton. Bariton-Lage. Vibrato.

Die Sonne scheint nun schon fast senkrecht auf unsere Köpfe. Ich gehe über den Platz vor
der Kirche und stelle mich neben Mateja, um in die Gläser zu schauen. Eine junge Frau
kommt vorbei. Zwei Hunde begleiten sie. Eine Art Spitz, und ein Beagle uralt. Der Spitz soll
Platz machen und warten. Sie geht weg. Der Spitz wartet erst, dann trollt er herum. Ich
nehme seine Leine vom Boden auf und führe ihn an den ursprünglichen Platz zurück. Lege
die Leine an den Boden und befehle ihm Platz zu machen. Und die Leine zu bewachen. Er
setzt sich hin und schaut mich ganz treuherzig an.

Die Gläser von Mateja und Stefan zeigen die Kirche, helle Hausmauern, aber einfach auch
Farben. Ein Herr fotografiert mit dem Handy ins Glas hinein. Und um das Glas herum. Ich
stehe neben Mateja:

«Es fällt uns nicht ganz leicht, uns zur Musik zu äussern, da wir ziemlich eingespannt sind.
Wir haben uns für Soglio intensiv mit den ‘flüchtigen Augenblicken des Glücks’ beschäftigt –
sei es im Infopoint oder draussen im Feld beim Erklären und zum Mitmachen motivieren.

Bei den kurzen Momenten, an denen wir uns der ‘Tageskomposition’ widmen können, hat
uns vor Allem der räumliche Aspekt beeindruckt. Die Klänge, die gleichsam durch Soglio
schweben, üben eine ganz eigene Faszination aus. Und wenn sie sich dann miteinander
verweben und die Alltagsgeräusche überlagern, schliesst sich auch der Kreis zu unserer
Arbeit wieder.»

11h30
Ich gehe hinauf zu Tonis Atelier. Toni ist Maler. Er malt die Alpen und Orchideen. Toni ist
nicht da. Drei Kids planschen im Brunnen vor dem Atelier herum. Ich frage sie, ob sie Toni
gesehen hätten. «Ja, ich kenne ihn», ruft einer. «Hast Du Toni heute schon gesehen?»
«Heute noch nicht, aber gestern.» Ok.
«Warum suchst Du ihn?»
«Hast Du heute im Dorf etwas gehört?» frage ich zurück. Er schaut mich an, wie wenn ich
vom Mond kommen würde.

Unterwegs sehe ich Jürgen mit seiner Kamera auf den Platz vor der Kirche zugehen. «Ich
empfinde diesen Ort Soglio wunderbar für die Art der Musik, weil das Dorf sehr ruhig ist. Es
passt wunderbar zu dieser Art von der Musik. Nur leichte Störungen, die ja dazugehören.
Handwerker, die das Dach reparieren. Das waren Dirigenten, die mit dem Taktstock auf das
Pult schlagen. Die Personen in dem Dorf sind nie sehr laut. Verkehrsgeräusche sind sehr
reduziert. Tolle Kombination aus Atmosphäre und Musik. Wasserplätschern, Brunnen. Die
Glockenschläge sind sehr begleitend, weil der Glockenschlag ein Startpunkt ist. Nach dem
Glockenschlag gibt es eine Pause. In dieser Pause kann man die Geräusche des Dorfes

hören. Das funktioniert super. Alles hat funktioniert, ausser dass ich keinen Zusammenhang zwischen den Tönen und Musik herstellen kann. Aber das muss man vielleicht auch nicht.»
Ist das noch Musik?
«Ich höre einzelne Töne. Das ist vielleicht noch keine Musik. Mehr Geräusche.
Pausen. Die Pausen finde ich gut, weil dann Musik und Geräusche des Dorfes miteinander
erkennbar sind. Diese Art der Musik ist die richtige, um aus der Kombination von Geräuschen
aus Musik-Instrumenten und Alltagsgeräuschen, Wind, Geräusche von Zuschauern etwas mitzunehmen. Das nehme ich mit. »

11h40
Wieder vor dem Laden Soglio Produkte. Will prüfen, ob ich da die Töne vom Kirchplatz her
noch höre. Vor dem Laden steht ein Mann mit Handy. Er geht hinein und fragt, nach einer
Wohnung mit grüner Tür. Die Wohnung von seiner Tochter, die eine Woche in Sogio Ferien
macht. Das Haus habe eine grüne Tür, und das Entrée sei voller Kinderwagen. Er finde das
Haus nicht. Die Frau im Laden kann ihm auch nicht helfen. Sie sei aus Bondo, kenne sich hier
nicht so aus.
Ich schaue in den Laden hinein. Ich frage ihn, ob die Tochter Kinder habe? Rauchen würde
sie nicht, aber zwei Kinder hätte sie.
«Eine kleine Tochter?» frage ich. «Ja.» «Heisst die Tochter Selina?»
«Ja, genau, Selina heisst sie. Kennen Sie sie?»
Ja, ich glaube, ich habe sie heute morgen um 7 Uhr kennengelernt.
«Das erstaunt mich überhaupt nicht», lacht der Mann. «Selina ist immer unterwegs.»
«Sind Sie der Opa?»
«Ja», sagt er, und nun ist er doch ein bisschen erstaunt.
Ich sage ihm, Selina hätte mir erzählt, dass ihr Opa noch heute käme. Ich nehme an, sie
wohne in der Nr. 8.
Wir gehen die Gasse hoch. Ich führe ihn vor die Türe Nr. 8. Eine grüne Tür. Wir machen sie
auf. Kinderwagen überall. Alles da. Er hat die Wohnung gefunden und strahlt übers ganze
Gesicht. Wir verabschieden uns und ich gehe zurück in den Laden von Soglio-Produkte, wo
ich mein Notizbuch gelassen habe. Über Musik haben wir nun nicht gesprochen, obwohl ich
annahm, dass er die Töne bei der Kirche durchquert haben muss.

RRRRRSSSSRRRRRRRRRRRR

Der Laden in Soglio ist immer eine Anlaufstelle für mich. Ich erzähle der Frau im Laden die
Geschichte des Findens des Hauses mit der grünen Tür und von der Musik. Nein, der Herr
Hunkeler sei heute noch nicht gekommen. Er komme nicht jeden Tag. Ja, die Musik habe sie
gesehen, vor der Kirche.

Wie riecht Geissenbutter? Kann man die Töne von der Musik in Verbindung mit Geruch
bringen? Haben sie einen eigenen Geruch?

Walter Hunkeler habe ich letztes Jahr in Soglio kennenglernt, auf dem Weg zum Parkplatz.
«Sind Sie neu in Soglio?» hatte er gefragt. Er erzählte mir, dass er in der mikrobiologischen
Forschung gearbeitet habe und 1979 in einem Raum seines Wohnhauses in Soglio ein Labor
eingerichtet habe. Dort experimentierte er mit Geissenbutter, aus der er zusammen mit
seiner Frau eine Rheumasalbe und Massagebalsam entwickelte. Der Geissenbutter-Balsam
wurde zuerst im Bekanntenkreis und bei Feriengästen abgesetzt, dann in ersten Läden. In
diese Zeit fällt auch die Bekanntschaft mit Martin Ermatinger, einem Betriebsökonomen, der
sich wie er für Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung in Berggebieten interessierte. Die
beiden gründeten 1986 zusammen eine Kollektivgesellschaft. Das Labor zog nach
Castasegna um, in die leer stehenden Räumlichkeiten des ehemaligen Hotels Croce Bianca.
Auf zwei Stockwerken gab es Raum für die Produktion, ein Kontroll-Labor, Lagerung,

Administration und Verkauf. Schrittweise erfolgte die Professionalisierung des Unternehmens
Soglio Produkte in Herstellung, Verkauf und Vertrieb. Bis heute. Das lese ich in einem
Prospekt im Laden.

12h10
Mittagessen in der Stüva. Ich sitze neben dem Paar aus der Casa Alta an der Piazza. Sie
wohnen im 2. Stock. Um 7h hatten sie da ihre Köpfe aus dem Fenster hinausgestreckt. Wir
kommen ins Gespräch. Die beiden sind aus Milano. Der Mann war Urbanist. Architekt. Seit 30
Jahren kommen die beiden nach Soglio. «Wir sind schon fast Einheimische», lachen sie. Ja,
die Musik gefalle ihnen. Sie ist Anthropologin und hat immer wieder für Radio Svizzera
Italiana Reportagen gemacht. Sie ist vertraut mit der Arbeit für das Gehör.

13h20
Bushaltestelle Soglio Dorf. Der Bus nach Promotogno steht da. Ich stelle mich in die
Schlange beim Bus nach St. Moritz. Eine Frau spricht mich an. Ob ich S. sei. «Ja, die bin
ich.» Sie kenne mich, sagt sie. Sie sei Sabine T. aus G. Wir hätten einmal miteinander zu tun
gehabt, und sie hätte mir eine Publikation geschickt. Sie lebe in Soglio und in G. Das Atelier
hätte sie in Soglio. Ein altes Haus ihrer Grosseltern. Ich freue mich, die Frau wieder zu sehen
nach so langer Zeit. Sie lädt mich nach Soglio ein. Nächsten Sommer, gerne.
Sie müsse nach Stampa, das Auto holen. Wir winken uns zu, als sie im Bus abfährt.
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14h00
Es wird warm im Dorf. Die steinernen Fassaden beginnen, die Hitze abzugeben.
Diese Erzählung ist mühsam. Ihr fehlt die einheimische Spontaneität, die grellen Töne. Sie ist
mehr Aufzählung als Erzählung. Ich werde sie fortsetzen, bis die Einzelheiten erschöpft sind.

Ich spreche mit Lars und Miriam. Diese Musik bricht alle Gewohnheiten, meinen sie. Töne,
Rhythmus, Pausen, der Umstand, dass man den Raum des Dorfes hört. «Das Klatschen des
Publikums ist fast gewalttätig.» Sie schlagen vor, wie die Taubstummen zu klatschen. Die
Hände in der Luft schwenken, wie Vögel flattern lassen. Schön.
Später Myriam: «Ich muss mich auf ein neues Zuhören öffnen, da die Lautstärke der
Instrumente ähnlich hoch ist, wie die Geräusche im Dorf. Das Öffnen der Wahrnehmung ist
sehr meditativ. Eine überraschende schöne Erfahrung mit der neuen Musik, in ungewohnter
Umgebung.» Lars: «Die Klangräume der Musik haben bei mir die Wahrnehmung erweitert,
was mir auch schon beim Hören von alter Musik aufgefallen ist.»

14h00
Am Tor vor dem wunderbarten Garten der Ca di Mezzo. Kirchenglocken. Beim Mittagessen
hatte ich Jessica kennengelernt. Sie kommt aus Kanada, lebt in Genf und ist gestern abend in
Soglio angekommen. Sie erzählt mir ihren Morgen.

«Around 7:00am I took a walk alone through the Bregaglian village. I heard the sounds of a
single violin. It seemed to be coming from the face of the mountain. The sounds were not
particularly melodic or emotional, but they were still beautiful to hear in the morning light. The
mountain village was otherwise silent, except for the wind and the birds. I looked around until
I spotted the violinist on the balcony, and I sat down and enjoyed the performance.

Throughout the day, I particularly enjoyed sitting in the sun to watch the duets that were performed out of barns or cultural centers. I noticed the effect each setting had on the acoustics.

I found it charming to watch the event participants get creative while taking photos with the colored, reflective glass panels.

I found the music itself to be quite esoteric. While I very much enjoy the experience of the musical performances in such a magical setting, I probably would have enjoyed more melody or emotion in the music itself. »

15h30
Gassa d’la Streccia. Ich steige zur Wiese oberhalb des Ateliers von Raymund Meier auf. Ich
höre ein paar Grillen. Es ist warm.
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Ich lege mich in die Wiese in den Schatten eines Baumes.

16h15 Wo bin ich? Die Augen reiben. Auf, auf!
Sehe Silvana mit dem Kinderwagen auf der Piazza.
«Die erste Aufführung heute morgen habe ich von Zuhause aus gehört. Ich habe die ‘Musik’
gesucht. Sie war sehr leise, und ich konnte nicht sagen woher sie ertönt.
Die Musik war den ganzen Tag hörbar, jedoch fast hintergründig und hat für eine wohlige
Stimmung gesorgt. Dank der Musik habe ich alles viel intensiver wahrgenommen, v.a.
Bilder. Ich bin an Orten stehengeblieben, an denen ich täglich vorbei laufe – mit Kind, in Eile
und oft unbewusst. An diesem Tag jedoch bin ich stehengeblieben, habe mir Zeit genommen
und einfach nur zugehört. Ich kann mich entspannen und geniessen. Dabei ist mir der Ort
(die Kulisse) am stärksten in Erinnerung geblieben. Ein Ort des Alltags hat etwas Feierliches
bekommen.»

17h30
Ich treffe Martin wieder beim Zuhören. «Als der Tag um 7 Uhr begann, wusste ich noch nicht wie intensiv und dicht er werden würde. Die Musik hat das Dorf zum Tönen gebracht. Den Hahn noch nicht. Der Hahn hat erstmals um 8 Uhr gekräht. Eine Stunde nach Beginn.
Mit der Musik war ich auf gleich verbunden, ich hatte so ein Gefühl wie das Dorf und das Dorf
erwacht. Das Leben erwacht. Das Leben geht los. So wie sich die Musik in den Stunden
danach im Dorf bewegt hat, so ist das Leben und das Dorf. Musik war mit dem Dorf
verquickt.
Das ist Musik wie ein Lebenslauf.
Schön, wie die Orte gewählt sind. Die Lage der verschiedenen Orte. Die Orte, die ganz
Klangräume sind und wo die Musik in verschiedenen Räumen ertönt. Der Lebenslauf war
hörbar. Umweltgeräusche kamen dazu.
Mittags war ein Mittagsgefühl. Nachmittags war Nachmittagsgefühl.
Beim letzte Teil der Reihe ist das Abschiednehmen. Der Tag neigt sich dem Ende zu. Viel
mehr Umgebungsgeräusche sind zuhören. Autos sind heimgekommen. Anderes hat man
gehört... Die Leute haben ihre Pflicht getan. Alles ist Teil des Schlusses.
Jetzt um 17 Uhr beginnt dieser Schlussteil. Wunderbar. Alle Leute sind begeistert. Hören
ruhig zu. Ich bin auch sehr ergriffen. Ich gehe nun, ich will hin und her laufen. Ich will das
Ende von verschiedenen her Stellen hören.»

1.September
«Wenn ich jetzt vorbei gehe, ist nur noch die Kulisse da. Die Musik ertönt nicht mehr, aber
die Bilder und die Eindrücke von diesem Tag sind mir geblieben.»
«Ich wünsche mir, dass Peter das nächste Mal für Stimmen komponiert.»
«Ich wünsche mir für die Tageskomposition noch ein Schlussstück für die Nacht.»
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