Interview mit den Komponisten Peter Cadisch und Jean-Jacques Dünki, Soglio Festival 2021

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Pietro Maroni (PM): Ihr habt Euch im Rahmen der Vorbereitungen auf das Soglio Festival nun während längerer Zeit mit dem Thema Duft, damit im weitesten Sinne auch mit der Sinnlichkeit als solcher, auseinandergesetzt. Wenn Ihr zurückblickt, was sind Eure wesentlichsten, vielleicht auch überraschendsten Entdeckungen und Erkenntnisse aus dieser Beschäftigung?

Jean-Jacques Dünki (JJD): Ich sehe das Thema „Duft“ in einem weiteren Sinn als „Inspiration“ – denn ein Duft wird nur im Einatmen wahrgenommen. Dies schafft erst Dehnung, Weite, Erkenntnis – und später, in einem nächsten Schritt, vor dem Ausatmen, entsteht Beengung, und schliesslich Befreiung. Diese Polarität ist für mich durchaus auch ein musikalischer Prozess.

Peter Cadisch (PC): Was mich sehr erfreut hat, ist, dass ich während der kompositorischen Arbeit immer mehr Analogien zwischen Duft und Klang erfahren konnte. Der unmittelbare Austausch zwischen Nase und Geruch, Ohren und Klang ist in seiner Komplexität nur über die Luft als gemeinsamer Raum erfahrbar.

PM: Wenn man sich vergegenwärtigt, wie viele Musikwerke etwa nach Vorbildern bildender Kunst entstanden sind, dann sind „Duftkompositionen“ vergleichsweise rar gesät. Überrascht Euch das oder habt Ihr eine Erklärung dafür?

JJD: Eine bildliche Inspiration zu einem Musikwerk lässt sich leicht im Programmheft eines Konzerts abbilden oder in einer Analyse festmachen. Duft als Inspirationsquelle hingegen ist heimlicher und viel schwieriger fassbar.

PC: Meiner Ansicht nach ist der Duft so etwas wie die Dynamik (Lautstärke) in der Musik, vollkommen subjektiv und in grösster Abhängigkeit vom momentanen Zustand der Sinne in einem bestimmten Raum. Können sich Tonhöhen bis zu einem absoluten Gehör festsetzen, so bleiben Lautstärken immer relativ und brauchen eine Bewegung, damit ihre Differenzierung voll ausgeschöpft werden kann. Eine dynamische Bewegung in einem Zeitrahmen, eine Geste im Raum, in der Luft, ist immer von kleinsten Bewegungen durchdrungen. Diese sind immer einmalig und nie reproduzierbar. Dies könnte darauf hinweisen, dass Düfte in der Vergangenheit die Komponisten nicht so sehr inspirierten, da die Dynamik in der Musikgeschichte immer wieder stiefmütterlich behandelt wurde. Noch immer höre ich von Interpreten, wenn ich sie auf die spezielle Dynamik meiner Werke aufmerksam mache: „zuerst die Noten, dann die Dynamik“. Mich fasziniert die Dynamik in all ihren Aspekten, vor allem auch die Überlagerungen von verschiedenen Dynamiken, die ich wie die Zusammensetzung eines kunstvollen Duftes betrachte. Eine Duftessenz (Lautstärke) kommt stark zum Zug, eine andere bleibt im Hintergrund usw.

PM: Eure neuen Werke, die am Soglio Festival uraufgeführt werden, sind in Anlehnung an das Festivalthema entstanden. Was erwartet uns und was für Zugänge habt Ihr gewählt?

JJD: Mir waren zwei Aspekte wichtig: zuerst die Aufführung in Soglio, in dieser kargen, aber einzigartigen Berglandschaft. Dann: für mein Streichtrio gilt, was ich zur ersten Frage gesagt habe, nämlich die Polarität von Ein-und Ausatmen als musikalischer Prozess; das Märchen „la sogliola smarrita“ hingegen inszeniert auf unterhaltsame Art und Weise die Polarität von Beengung und Weite.

PC: Jede Kunst hat ihre eigene Art sich auszudrücken, und diese ist immer kunstspezifisch. Meine Musik hat sich aufgrund des Themas nicht grundlegend verändert. Sie ist und bleibt eine eigene Sprache mit eigenen Regeln. Sie riecht nach wie vor nicht, sondern klingt. Die Herausforderung bestand viel mehr darin, durch Klang eine Welt zu erschaffen, eine geistig-seelische Erhebung zu erreichen, die durch den Duft einer Rose entsteht. Die immer vorhandenen, sinnlichen, synästhetischen Zusammenhänge sollen nur als Transportmittel funktionieren, um das, was ausserhalb unseres Daseins existiert, mit unserem Innersten zu verbinden. Wird Sinnlichkeit zum Selbstzweck, so verliert sie, meiner Ansicht nach, diese Kraft.

PM: Dass Komponisten gemeinsam Projekte realisieren, kommt zwar vor, ist im täglichen Geschäft aber eigentlich eher eine Seltenheit. Auch verbindet Euch eine lange Freundschaft. Wie ist diese entstanden und wie hat sich diese über die Jahre hinweg entwickelt? Tauscht Ihr Euch auch gelegentlich aus, vor allem im Zusammenhang mit Fragen rund um Kompositionen, an denen Ihr jeweils arbeitet?

JJD: Peter Cadisch und ich wissen sehr wohl, wie verschieden unsere jeweilige Art zu komponieren ist; das gilt natürlich auch für unsere Kompositionen. Gerade das finde ich aber reizvoll, anregend und ermutigend auf menschlicher Ebene. Die Fragen, die mir Peter zu meinen Kompositionen stellt, sind immer sehr wesentlich und helfen mir, mein eigenes Schaffen zu reflektieren.

PC: Jean-Jacques ist in mein Leben getreten, wie es so oft (immer) passiert, durch puren Zufall, und er hat es ertragen. Auf dieser Grundlage sind Gespräche über alles möglich, was ein grosses Privileg ist, für welches ich ihm immer dankbar sein werde. Dieser Punkt, „bis Gespräche über alles möglich sind“, ist sehr speziell und führt auch dazu, dass man gar nicht mehr über alles sprechen muss. So hat jeder seine eigene Art, sich musikalisch auszudrücken. Ob sie nun verschieden ist oder nicht, ist für mich nicht relevant. Relevant ist mir, sie in einen Zusammenhang zu stellen, in einem Projekt mit meiner Musik und dies als solches zu realisieren, nicht wie eine zufällige Begegnung, sondern wie eine Beziehung, die gewachsen ist.

PM: Am Soglio Festival wird vorwiegend ausserhalb des gewohnten Konzertsaales musiziert, nämlich im Dorf, in den Gassen und Gärten, unter freiem Himmel. Von früher wissen wir um die grosse Beliebtheit von Serenaden, den abendlichen Freiluftkonzerten des 18. und 19. Jahrhunderts. Was verändert dieser Kontext, sowohl für Euch als Schreibende und Musizierende wie auch für die Zuhörer? Oder anders gefragt: ermöglichen Orte fernab von urbanen Zentren, wie Soglio, andere Zugänge zu Kunst?

JJD: Zwei Aspekte finde ich beachtenswert: im Freien gibt es weniger Hall und Echo als in den meisten geschlossenen Räumen, dafür mischen sich Natur-und manchmal auch menschliche Klänge ungefragt in die Musik. Und: das Zuhören im Freien ist irgendwie umfassender, ist weniger auf die Tonquelle gerichtet als in Sälen und Kirchenschiffen.

PC: Die Konzentration ist meiner Ansicht nach das A und O für die Rezeption von Kunst. Kunst lebt von der Aufmerksamkeit des Publikums, nicht von dessen Grösse. In Soglio experimentieren wir mit einer anderen Art von Aufmerksamkeit, also nicht jener, die wir vom klassischromantischen Konzertsaal gewohnt sind. Ich möchte Aufmerksamkeit fördern, durch Interdisziplinarität und ungewohnte Aufführungsorte, Orte etwa, die nicht akustisch steril sein müssen usw. Dies soll der Sensibilität eine Chance geben, sich auf Kunst einzulassen, ohne dass sie von den alltäglichen Problemen dominiert wird. Dies braucht Zeit. Vielleicht ist ein Rahmen wie das Soglio Festival eine Möglichkeit, solche sensiblen Erfahrungen zu machen, denn da reist man hin, an einem speziellen Tag, da herrscht eine spezielle Atmosphäre und die Hinreise an sich kann eine Vorbereitung sein. Alles Erfahrungen, die man ansonsten – aus dem schnellen Alltag gerissen, z.B. am Abend in einem Konzert – nicht machen kann. Ich denke, dass vor allem für die neue Kunst Darstellungsrahmen geschaffen werden müssen, die viel Zeit beanspruchen dürfen. Kunst nicht für den Konsum einer Freizeit(über)aktivitätsgesellschaft, sondern als eine wirkliche und wesentliche Auseinandersetzung mit der Gegenwart.

PM: Es gibt Komponisten oder Musiker mit ganz persönlichen Vorlieben, was Düfte und Parfüms betrifft. Richard Wagner beispielsweise liebte den Duft von Rosen über alles und pflegte immer eine auf seinem Arbeitstisch zu haben. Und vom griechischen Stardirigenten Teodor Currentzis weiss man, dass er sich vor Aufführungen sakraler Barockmusik auch schon mit Weihrauchdüften vorbereitet hat. Was sagen Euch solche Beispiele? Steckt da mehr dahinter oder sind das lediglich Fussnoten?

JJD: Jede schöpferisch tätige Person hat ihre eigenen, oft obskuren Inspirations-und Reizmittel. Doch glaube ich, dass letztere anekdotisch bleiben und nichts über ein Werk oder eine Interpretation aussagen.

PC: Düfte und Gerüche bedeuteten mir immer schon sehr viel. Die frühesten Erinnerungen sind mit Düften verbunden und eröffnen mir heute noch Welten, die unendlich grosse Energien in sich tragen. Kunstvolle Duftkompositionen sind etwas vom Erfreulichsten was es gibt und haben mich immer schon interessiert und mir grosse Freude bereitet. Die Freude ist ein grosser Antrieb für die Kunst, so wie selbstverständlich auch Trauer, Schmerz usw., sie sind voller Duftenergie und sprechen die Seele unmittelbar an. Alles um uns ist mit Duft und Klang verbunden. Diesen grossen Reichtum sollten wir pflegen und wie Wagner oder Currentzis für unsere Inspiration verwenden, im Sinne von „inspiratio“, Beseelung, Einhauchen, Atmen.

Pietro Maroni führte das Interview mit Peter Cadisch und Jean-Jacques Dünki im Juli 2021 anlässlich des Soglio Festivals 2021.